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Per Chat durch die Krise – Wie ein Berliner Start-up die Krisenberatung für junge Menschen revolutioniert

Psychische Probleme bei Jugendlichen nehmen zu. Doch vielen fällt es nicht leicht, sich Hilfe und Unterstützung zu suchen. Häufig sind die Hürden, die junge Menschen scheinbar überwinden müssen, einfach zu hoch. Wie digitale Angebote dabei helfen, die lebenswichtigen Gespräche zu starten, zeigt das Berliner Start-up „krisenchat“. Co-Gründerin Melanie Eckert erklärt uns im Gespräch, wie die Plattform mit ihrem niedrigschwelligen Zugang zu professioneller Hilfe einen echten Unterschied für Jugendliche macht.

Melanie Eckert im Berliner Office von Krisenchat
Melanie Eckert ist Co-Gründerin von „krisenchat.de“. krisenchat ist ein psychosoziales Beratungsangebot per Chat. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre können sich rund um die Uhr, 7 Tage die Woche, an krisenchat wenden und über die Website, per SMS- oder WhatsApp-Kontakt zu professionellen Berater:Innen aufnehmen. Der Chatdienst von krisenchat ist für die Benutzer:Innen kostenlos und wird ausschließlich durch Spenden finanziert und durch Sponsoren ermöglicht.

Das Start-up krisenchat wurde im Mai 2020 gegründet. Was waren damals eure Beweggründe für diesen Schritt?

Schon vor Corona gab es viel zu wenige Angebote für Kinder und junge Menschen in Krisen. Drei meiner Mitgründer, damals selbst erst 18 Jahre alt, hatten eine Anti-Mobbing-App für Schulen programmiert, die zu Beginn von Corona kurzerhand dem Bedarf angepasst wurde. Uns war klar, dass die mentalen Belastungen gerade für die Jüngsten in unserer Gesellschaft in dieser Ausnahmesituation drastisch zunehmen werden und sie einfache Zugänge für professionelle Hilfe brauchen. Deshalb haben wir krisenchat als 24/7, anonymes psychosoziales Beratungsangebot per Chat und WhatsApp für junge Menschen ins Leben gerufen.

Ein Eckpfeiler für Menschen in Not ist sicherlich die Telefonseelsorge. Warum glaubt ihr, dass das Angebot nicht alle Menschen jeden Alters abholt?

Mentale Belastungen sind leider immer noch sehr stigmatisiert. Gleichzeitig wissen wir, dass 75 % aller psychischen Erkrankungen im jungen Alter unter 25 Jahren entstehen und frühe Hilfen und Therapien besonders wirksam sind. Die Kernfrage ist daher:

Wie erreichen wir junge Menschen, um über schwierige Lebenslagen aufzuklären und motivieren sie dazu, sich Hilfe zu holen? Weil krisenchat zum Großteil von sehr jungen und engagierten Menschen mit aufgebaut wurde, konnten wir ihre Perspektive darauf wirklich einbinden. Die Zielgruppe telefoniert extrem ungern und braucht eine eigene Ansprache für diese Themen. Darauf haben wir uns spezialisiert und beraten per Messenger, eben weil über 95 % der Zielgruppe diese Dienste tagtäglich benutzt und sich dort anonym anvertrauen kann.

Team von Kirsenchat sitzt auf dem se:dot
Das Büro von krisenchat liegt im Herzen von Berlin. Neben den klassischen Arbeitsplätzen gibt es auch ein gemeinsames Wohnzimmer und eine Wohnküche, die zur Entspannung und dem Austausch genutzt wird.

Mit welchen Anliegen und Sorgen melden sich junge Menschen bei euch?

Die Top 3 Themen sind depressive Symptome, suizidale Gedanken und selbstverletzendes Verhalten. Junge Menschen melden sich aber mit allerlei unterschiedlichen Anliegen. Das reicht von Liebeskummer über Einsamkeit hin zu akuten Gefahrensituationen, in denen unser Kinderschutz-Fachteam Fälle übernimmt, weil junge Menschen unter physischer oder psychischer Gewalt leiden.

Ca. 2/3 der Hilfesuchenden sind junge Frauen. Warum fällt es jungen Männern so schwer, um Hilfe zu bitten? Und wie versucht ihr sie besser zu erreichen und über euer Angebot aufzuklären?

Psychische Probleme sind generell immer noch sehr stigmatisiert – besonders bei jungen Männern. Rollenbilder und die Annahme von sich „man müsse stark sein“ oder alles mit sich selbst auszumachen, ist besonders präsent bei männlichen Betroffenen. Die Gesellschaft lebt hier größtenteils immer noch sehr stereotype Bilder vor, die emotionale Probleme, Krisen oder auch generell Emotionen primär Frauen zuschreiben. Zu vermitteln, dass es stark ist, sich bei Problemen zu öffnen und auch Männer traurig, verletzt oder verzweifelt sind, ist ein langer Weg, den wir beschreiten, in dem wir uns diesem Thema besonders widmen. Wir sind deshalb zum Beispiel auch auf Gaming-Plattformen aktiv, kooperieren mit vielen Influencern aus dem Bereich Musik (Rap), Gaming, Sport und Mode, weil sie gerade für junge Männer unheimlich wichtige Role Models sein können.

Krisenchat Mitarbeiter auf Sedus Stuhl
Der erste Schritt im Chat: Zuhören, empathisch reagieren und dabei helfen, den jungen Hilfesuchenden, die Situation zu sortieren.

Wie sieht ein „normaler“ Arbeitstag von einer Berater:In bei euch aus?

Unsere ehrenamtlichen Berater:Innen arbeiten komplett verteilt über Deutschland. Sie arbeiten pro Monat ca. 2-4 Beratungsschichten (à 2h) , die sie sich frei einteilen können. Für die Beratung haben wir eine Plattform komplett selbst entwickelt, die Beratungsleitfäden und Ressourcen bereithält und über einen Schichtplan sicherstellt, dass wir 24/7 für unsere Chatter:Innen da sind.

Der größte Teil eures Teams arbeitet remote. Wie schafft ihr es, dass sich eure Mitarbeiter:Innen als fester Bestandteil des Teams von krisenchat fühlen?

Wir haben uns komplett remote gegründet und nach einem Jahr festgestellt, wie wichtig es ist, einen Ort zu haben, an dem zumindest ein Teil des festangestellten Kernteams physisch zusammenkommt. Uns war klar, dass wir kein klassisches Office brauchen, sondern einen Ort, wo wir gerne quatschen und brainstormen. Wir haben es tagtäglich mit Krisen und wirklich emotional belastenden Themen zu tun, da ist Selbstfürsorge sehr wichtig und ein schönes Umfeld tut dann einfach gut. Der Großteil unserer täglichen Arbeit findet aber remote statt und Slack ist unser wichtigstes Kommunikations- und Informations-Tool. Ein wertschätzender Umgang in der schriftlichen Kommunikation, digitale Austauschräume und Rituale, wie das digitale gemeinsame Mittagessen, sind wichtige Elemente. Zudem versuchen wir mindestens zweimal im Jahr auf Offsites für mehrere Tage zusammenzukommen und gemeinsam an größeren Themen zu arbeiten, gemeinsam zu kochen, zu feiern und Zeit zu verbringen.

Team von Krisenchat diskutiert
krisenchat arbeitet aktuell mit einer Community von rund 450 ehrenamtlichen Berater:Innen zusammen. Der Umgang mit mentalen Belastungen findet gerade bei jungen Menschen kaum eine Lobby in Deutschland. Deshalb löst das Team diese Mammutaufgabe mit einer starken Gemeinschaft aus ehrenamtlichem Engagement, finanziellen Supporter:Innen und hochqualifizierten Mitarbeiter:Innen, denen ein Job mit Sinn wichtig ist.

Der große Meetingtisch steht bei euch in der Küche. Ist die Küche eine Art zentraler Treffpunkt für euch als Team?

Die Küche ist in jeder Wohnung oder auch jedem Büro ein zentraler Punkt. Hier wird zusammen gebrainstormt, es erfolgen wichtige Meetings und es gibt einen langen Tisch, an dem viele Leute Platz finden. Besonders toll finde ich, dass er von einem Freund eines Mitgründers während seiner Ausbildung zum Tischler mit viel Liebe und Herzblut gezimmert wurde – also auch hier ist die Zielgruppe präsent.

Das Büro von Kirsenchat in Berlin
In der Küche steht einer langer Esstisch, der für gemeinsame Mittagessen, aber auch für Team-Meetings genutzt wird. Spontane Brainstorming-Sessions werden durch das flexible se:lab board mit dem dazugehörigen se:lab rack in entspannter Küchenatmosphäre umgesetzt.

Und noch eine Frage zum Schluss: Du bist Psychologin. Was glaubst du sagt die Einrichtung eures Büros über euch als Start-up aus?

Ich finde es toll, wenn auch das Arbeitsumfeld und das Büro mit Leben und Individualität gefüllt sind. Natürlich braucht man auch ein professionelles Set-up, aber die Kombi aus teils privaten Vintage-Möbeln, Kunst und Pflanzen sorgt dafür, dass sich sehr viele bei uns wohl und auch für die Arbeit inspiriert fühlen. Ich bin überzeugt, dass die Einrichtung, Räume und Licht eine große Auswirkung auf unser Wohlbefinden und unser Schaffen haben. Es ist sehr erfüllend zu beobachten, wie das Team sich die Räume zu eigen macht und auch als Community-Ort nutzt, um Tanzmeditation oder andere Events nach der Arbeit selbstorganisiert zu nutzen. Wir haben alles selbst eingerichtet und als soziales Start-up nur begrenzt Mittel zur Verfügung; das macht auch kreativ und so sind die alten Kinositze inzwischen nicht mehr nur aus der Not geborene Sitzmöglichkeiten, sondern ein beliebter Rückzugsort.

Hier geht’s zum gesamten SEDUS Lookbook 

Text und Interview: Bernadette Trepte | Foto: Josephine Seidel-Leuteritz

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